Exkurs - Emily Dickinson
- Maria Schuppler
- 30. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Heute möchte ich euch Lust machen auf eine Lyrikerin, die nichts mit Haiku zu tun hat - und dennoch diesen Geist versprüht.
Es geht um Emily Dickinson, eine amerikanische Dichterin, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Massachusetts gelebt hat. 1830 in eine calvinistische Politikerfamilie in Amherst hineingeboren, blieb sie zeitlebens unverheiratet. 1886 starb sie in ihrem Geburtshaus,
Ihre hohe Intelligenz bei gleichzeitiger wohl physischer wie psychischer Labilität, wurde zwar sowohl von der Familie wie ihrem Umfeld wahrgenommen, sie erlernte nach dem Abschluß des College keinen Beruf und brach Studien nach einem Jahr ab. Diese Wahrnehmung mündete wohl nur darin, daß man sie gewähren ließ. Stattdessen pflegte sie ihren Vater bis zu dessen Tod.
Voller Entdeckerfreude, neugierig, offen, eine genaue Beobachterin der Natur und des menschlichen Seins erkannte sie die Grenzen, in die sie durch ihre Herkunft und gesellschaftliche Vorstellungen gezwängt wurde Zwar konnte sie sie nicht sprengen, aber innerlich erhob sie sich darüber und lachte, so drückte sie es mehrfach in ihren Gedichten aus (zB., aus: "an irgendeinem Sommermorgen", Nr. 58: "they shut me up in Prose - As when a little Girl.....Abolish his Captivity - and lauph - no more have I -", sie vergleicht sich dabei mit einem Vogel, der ebenfalls eingesperrt wurde), ... Gleichzeitig war ihr Entschluß zu totaler Einsamkeit, indem sie kaum direkte Außenkontakte pflegte (aber sehr viele Briefe schrieb, an über 90 Briefpartenr), ihr Zimmer so gut wie nie verließ und sich seit ihrem 30. Lebensjahr nur in Weiß kleidete, ihr ureigener Protest gegen die Konventionen und ein Akt innerer Befreiung. Statt mit Kochen, Hausarbeit, Kindererziehung, Handarbeiten war sie mit ständigem Schreiben beschäftigt, sie folgte also ihrem inneren Ruf und Drang.....
Ihre Briefe und Gedichte brachen die Konventionen von Kirche, Religion und Gesellschaft auf, sehr ungewöhnlich für eine calvinistisch erzogene Frau, und wohl auch deshalb blieb alles in ihrer Schublade. Veröffentlicht wurden zu ihren Lebzeiten 7 Gedichte. Alles andere wurde nach ihrem Tod, zT stark redigiert (es war nicht "geschliffen", oder angepaßt?, genug), in verschiedenen Antologien und Sammlungen veröffentlicht. Gute Übersetzungen sind allerdings rar. Der eigentliche Zauber und die Kraft ihrer Sprache kommt am besten in der Originalsprache zum Vorschein.
Was macht die Faszination dieser Dichterin aus?
Die Strahlkraft ihrer Gedichte reicht bis weit ins 20. Jahrhundert, dessen Sprache und Gedankengänge sie vorweggenommen zu haben scheint. Dazu kommt diese sehr persönliche Verbindung von Naturbeschreibung und gleichzeitiger Beschreibung eines inneren Zustandes, die eine starke Anziehungskraft auch auf Dichter und Musiker des 20. Jahrhunderts ausübt (zB hat Aaron Copland das Gedicht "There came a Wind like a Bugle" vertont, zunächst für Sopran+Klavier, später mit Orchester).
Ihre Entwicklung ist geprägt von Zuneigung zu jedem Lebewesen und allen Naturerscheinungen bei gleichzeitiger Hingabe an ihre Berufung und den Mut, diesen Weg einzuschlagen, ein Zeugnis von echter Freiheit.
Einige ihrer Gedichte erinnern wie von fernher an Haiku, auch wenn es keine sind. Sie zeugen von einer Liebe zum Kleinen, Unscheinbaren, wenig Beachteten. Und nehmen den Leser mit in den unermeßlichen Kosmos der kleinen, einfachen Welt.
Vielleicht muß man sich dieser Dichterin "umkreisend" nähern, wie Gunhild Kübler (und E. Dickinson nennt ihr Verfahren übrigens selbst "circumference") das nennt, also sich vorsichtig und in Kreisen nähern, bis sich auf einmal das "im tiefsten Unsagbare" eröffnet (Gunhild Kübler ebd.)
Die Beispiele, die ich hier gebe, belasse ich auf Englisch. Sie dürften gut verständlich sein und wirken so umso intensiver...
Zunächst Texte aus dem Gedichtband "an irgendeinem Sommertag", die in Klammern gesetzten Zahlen entsprechen der Nummerierung im Buch:
a word is dead
when it is said,
some say.
I say it just
begins to live
that day (92)
White as an Indian Pipe
Red as a Cardinal Flower
Fabulous as a Moon at Noon
February Hour - (94)
Yesterday is History,
`Tis so far away -
Yesterday is Poetry -
`Tis Philosophy -
Yesterday is mystery -
Where it is Today
While we shrewdly speculate
Flutter both away (95)
fame is a bee.
It has a song -
It has a sting -
Ah, too, it has a wing (129)
Einige der wichtigsten Gedichte aus dem Büchlein von Gunhild Kübler, das im Übrigen wirklich gute Übersetzungen bietet (auch hier die Nummerierung entsprechend dem Buch):
in the name of the Bee -
and of the Butterfly -
and of the Breeze - Amen! (1)
A sepal - petal and a thorn
opon a common summer`s morn -
a flask of Dew - a Bee or two
a Breeze a`caper in the trees -
and I`m a Rose! (2)
Quellen:
Dominique Fortier, Städte aus Papier, vom Leben der Emily Dickinson, Luchterhand, 2022, ISBN 978-3-641-28326-1
Emily Dickinson/Gertrud Liepe, An irgendeinem Sommertag, Poems/Gedichte, Englisch/Deutsch, Philipp Reclam jun, 2022, ISBN 978-3-15-011396-7
Gunhild Kübler, Emily Dickinson und der Wind - 33 Gedichte, Carl Hanser Verlag 2014, ISBN 978-3-446-24811-3
Wikipedia

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